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Das Habsburgerreich - Inspiration für Europa?

Eine Spurensuche

Caroline de Gruyter

böhlau Verlag, 2022

Caroline de Gruyter ist eine niederländische Journalistin und schreibt unter anderem für die Zeitung NRC Handelsblad. Ein ihr wichtiges Thema, über das sie seit mehr als 20 Jahren von Brüssel, Wien, Oslo und Genf schreibt, ist Europa. Als sie mehrere Jahre in Wien lebte, wurde sie offensichtlich von der österreichischen Geschichte fasziniert. In ihrem Buch, dass aus dem holländischen ins deutsche, französische und schwedische übersetzt wurde, nähert sie sich der Geschichte des Habsburgerreiches mit einem vergleichenden Blick zur Europäischen Union und sie findet bei allen Unterschieden einige denkenswerte Gemeinsamkeiten.

In seinem 600 jährigen Bestehen war das Habsburgerreich immer divers, bestehend aus Deutschen, Italienern, Slowenen, Kroaten, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Rumänen und Ukrainern, wenn man von den zeitweiligen spanischen, holländischen und Überseebesitzungen absieht. Da es sich nie durch besondere militärische Stärke oder grausame Unterdrückung auszeichnete, war es immer um den Ausgleich der verschiedensten Interessen der Völker innerhalb des Reiches und der Großmächte in Europa bemüht. Es überdauerte Jahrhunderte in einem immerwährenden Ringen um Kompromisse, in einem andauernden Bestreben, den verschiedenen Interessen soweit wie nötig und möglich entgegen zukommen.

Die meisten habsburgischen Kaiser taten alles, um für Frieden,
Wohlstand und Gerechtigkeit zu sorgen. Besser ein mittelmässiger
Frieden als ein glorreicher Krieg, meinte Kaiserin Maria Theresia.

(S 199-200)

Eine interessante Ähnlichkeit stellt die Beamtenschaft dar. Die Beamtenschaft des Habsburgerreiches, beginnend mit Maria Theresia und Joseph II im 18 Jahrhundert, war sehr kompetent und loyal, einerseits gegenüber der Idee des Ganzen, des Habsburgerreiches, und andererseits gegenüber den Interessen der Bürgern und Bauern im Sinne von Gerechtigkeit und Wohlleben. Sie wendeten sich in der Regel stark gegen Partikularinteressen, was von den lokalen Eliten meist nicht behauptet werden konnte.

Das Habsburgerreich hat sich oft mehr um die Interessen der Bürger, Völker, um Gerechtigkeit bemüht, als die lokalen Eliten.

 Der ungarische Adel unterdrückte die ungarischen Bauern. Es waren
 die Habsburger, die den Adel dazu zwangen, den Bauern immer mehr
 Rechte zu gewähren.
 
 Der Nationalismus in Belgien hat seinen Ursprung im belgischen
 Adel, der beleidigt war, weil die Habsburger einige ihrer
 Privilegien gestrichen hatten. Die Strassenschilder zeugen immer
 noch davon, dass das Volk auf der Seite der Habsburger stand.
 
 (S 178)

In Europa ist es heute ähnlich. Die Brüsseler Beamten sind ausgesprochen kompetent und loyal gegenüber der Idee Europa und setzen sich konsistent für Gerechtigkeit über den ganzen Kontinent, bessere Umwelt-, Lebensmittel-, medizinische und soziale Standards ein, und sie vertreten selten die Interessen der Industrie oder einzelnen Ländern. Von den nationalen und regionalen Regierungen und Eliten in Deutschland, Frankreich, Österreich oder Italien kann man das nur in weit geringerem Ausmaß behaupten.

Die meisten der von der EU erlassenen Regularien setzen Verbesserungen für fast alle Bürger durch, oft gegen die Interessen großer Industrieverbände und nationaler Eliten.

 Der EU wird oft vorgeworfen, dass sie die Interessen
 multinationaler Unternehmungen vertrete. Aber sie trifft ziemlich
 oft Entscheidungen, die den großen Firmen gegen den Strich
 gehen. 
 ...
 Die EU stellt sich also regelmäßig auf die Seite der Bürger,
 genau wie das Habsburgerreich damals. Und beide werden
 (bzw. wurden) in der Folge mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht
 patriotisch zu sein.
 
 (S 178)

Eine weitere Ähnlichkeit stellt das ständige Ringen um Ausgleich von Interessen dar, das den einzelnen Völkern aber meist substantielle Vorteile bietet. Daher haben sich im Habsburgerreich die meisten Nationen ständig über die Wiener Herrschaft beklagt, aber niemand wollte das Reich verlassen.

 .. die eignesinnigen Ungarn ständig Widerstand gegen die "Wiener
 Vorherrschaft" leisteten, aber nicht im Traum daran dachten, das
 Habsburgerreich zu verlassen. Aus ihrem Verbleib zogen sie einen
 Nutzen.
 
 (S 200)

Das ist heute in Europa nicht anders, wobei leider vermutlich damals wie heute gilt, dass Vielen der Wert des Ganzen erst bewusst wird, wenn es es nicht mehr gibt.

De Gruyter findet eine Reihe von überraschenden Parallelen zwischen den eigentlich so unterschiedlichen Gebilden, dem Habsburgerreich und der modernen EU.

beide sind Weltmeister im Hinausschieben, Verzögern,
Fortwurschteln, und im Schliessen von Kompromissen. Es ist nie
fertig. Es ist nie perfekt. Nie. Das ist kein Zufall. Das liegt in
der Natur der Sache. Es gibt nämlich kaum eine andere Möglichkeit.

(S 199)

So trifft wohl Grillparzers Beobachtung aus dem 19. Jahrhundert über das Habsburgerreich auch auf die EU des 21. Jahrhunderts zu:

Auf halben Wegen und zu halber Tat
mit halben Mitteln zauderhaft zu streben

(Franz Grillparzer, Bruderstreit im Hause Habsburg)
(zitiert auf Seite 200)

Obgleich diese Beschreibung dem beobachtenden Europäer von heute oft als qualvolle Wirklichkeit erscheint, so dies auch ein Ausdruck von ehrlichem und fleißigem Bemühen Mehrwert für möglichst Viele zu schaffen.


Bleibt noch die Frage, warum das Habsburgerreich zerfiel. Dieser Frage geht auch de Gruyter nach. Das Standardnarrative lautet, dass die Bürger im Laufe des 19. Jahrhunderts gebildeter wurden, eine Modernisierung des Staates wünschten, und der zunehmende Nationalismus die Selbstbestimmung der einzelnen Völker in den Mittelpunkt der politischen Entwürfe stellte. Aufgrund dieser historischen Entwicklungslinien sind multinationale Staaten wie Österreich-Ungarn, das osmanische Reich und das Zarenreich am Anfang des 20. Jahrhunderts quasi zwangsläufig zerfallen. So steht es auch oft bis heute in den Schulbüchern.

Aber diese Interpretation ist heute laut de Gruyter nicht mehr haltbar. Zwar gab es im Habsburgerreich ein inneres Ringen zwischen den Völkern um Vorteile und Rechte, aber kaum jemand erhoffte sich in einem kleineren Staat größere Vorteil.

Ja, die Völkjer wollten alle mehr Rechte. Sie waren neidisch
aufeinander und behielten einander ständig im Auge, um sicher zu
gehen, dass andere nicht bevorzugt wurden. Sie liebten ihre
"eigene" Musik und sonstige kulturelle Ausdrucksformen. Zugleich
war die Motivation für die Selbständigkeit gering. Sogar Ungarn, wo
noch heute über die Habsburger gesprochen wird, als ob es sich um
eine ausländische Besatzungmacht gehandelt habe, wollte um keinen
Preis aus der Doppelmonarchie. Die Ungarn hatten mehr Mitsprache
als sonst jemand. Sie konnten nahezu alles blockieren. In ihrer
Hälfte der Doppelmonarchie konnten sie nach 1867 schalten und
walten wie immer sie wollten. 
...
Es gab noch einen Grund, weshalb Hardcore-Nationalisten mit
separatistischen Ideen vor 1914 kaum Fuß fassen konnten. Das
Habsburgerreich war nicht so starr, wie immer behauptet wird. Der
vorletzte Kaiser Franz Josef, mag zwar kein uberzeugter Demokrat
gewesen sein, aber er führte sehr wohl verschiedene Reformen
durch. Es wurde ein Parlament ins Leben gerufen, in dem alle
Völker vertreten waren. Dem Parlament wurden immer mehr Rechte
übertragen. Allmählich wurde im Laufe der Jahre das Wahlrecht
erweitert. 
... 
Niemand war jemals ganz zufrieden. Alles geschah auf Grundlage
von Konsens und Kompromissen. Aber alle hatten immer Aussicht auf
gewisse Verbesserungen.

(Seite 109)

Warum also zerfiel das Kaiserreich? Es war der Krieg. Bis 1914 waren die meisten Bürger ziemlich zufrieden.

Die Globalisierung sei vorangeschritten. Die Wirtschaft habe
gebrummt. Die Menschen hätten fortwährend mehr Leistung vom Staat
verlangt und diese oft auch bekommen.
...

Aber dies änderte sich als der Krieg begann. Und zwar aus zwei
Gründen. Zunächst ging das ganze Geld und alle Mittel plötzlich an
die Front, vier Jahre lang. Der Krieg verlief katastrophal. Von
vielen Bürgern kehrten Familienmitglieder und Freunde in
Leichensäcken zurück. Der Staat musste zahlreiche Leistungen
streichen um den Krieg finanzieren zu können. Viele Menschen
verloren ihre Arbeit, Sie wurden zu spät oder gar nicht
bezahlt. Dadurch änderte sich ihre Sicht auf den Staat. 
...
Sie wurden unzufrieden, waren allmählich offen für
Alternativen. Der Krieg trieb sie in die Arme der Nationalisten.

Zweitens war es der Krieg der zu einer Art "Staatsstreich"
innerhalb des Kaiserreichs führte. Militäroperationen hatten
plötzlich Priorität. Konservative Generäle übernahmen de facto die
Leitung von Franz Joseph. Sie hatten nie verheimlicht, dass sie ihn
für einen Schwächling hielten. Sie hielten die vom Kaiser
eingeleiteten Reformen für entbehrlich. Dass er Gewerkschaften
erlaubte und Arbeiter demonstrieren ließ, fanden sie lächerlich.
...
Sie schaften das Parlament wieder ab und beschränkten die
Bürgerrechte ... Auch dies machte viele Bürger wütend. Sie fühlten
sich hintergangen und waren immer enttäuschter vom Väterchen
Staat. Die Nationalisten nutzten die Unzufriedenheit dankbar aus. 

(Seite 109)

Der Stress des Krieges war zu groß, zumal es mit der Neuordnung in Nationalstaaten eine alternative Organisationsform gab, die sich viele vorstellen konnten, auch wenn praktisch alle die Misere und chaotischen Zustände der Übergangsjahre 1918-1923 gravierend falsch einschätzten.

Der Krieg schwächte den Staat in fataler Weise. Er hörte auf, ein
Rechtsstaat zu sein und sich um seine Bürger zu kümmern. Die
Menschen wandten sich gegeneinander, ethnische Gruppe gegen
ethnische Gruppe. Sprachgruppe gegen Sprachgruppe. Peter Judson
meint, der Krieg habe das Gefühl gegenseitiger Solidarität
zwischen Bürger und Staat erodieren lassen und allmählich die
Existenzberechtigung des Kaisserreichs unterminiert.

(seite 110)

Wenn diese Entsprechung zwischen Habsburgerreich und EU zutreffend ist, würde dies bedeuten, dass die EU soviel Mehrwert für ihre Bürger und Mitglieder generiert, dass sie noch sehr lange existieren und sich weiterentwickeln könnte. Aber einen wirklich großen Stress, wie ein jahrelanger, entbehrungsreicher Krieg oder eine jahrelange wirtschaftliche Misere, würde sie nicht aushalten.


Trotz aller Unvollkommenheiten und Sorgen können begeisterte Europäer von heute Mut aus der Tatsache schöpfen, dass das Habsburgerreich 600 Jahre bestand hatte, was übrigens länger war als jede der chinesischen Dynastien, weil es durch dieses beständige Ringen um kleine Verbesserungen, Vermeiden von leichtsinnigen Abenteuern und größeren Katastrophen, relevant für die Völker und Bürger war und Mehrwert brachte.

(AJ März 2023)