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Das Ende der Illusionen

Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne

Suhrkamp 2019

von Andreas Reckwitz

In fünf Texten skizziert Andreas Reckwitz eine Theorie der westlichen Gesellschaften unserer Zeit, orientiert anhand der Themen: Kultur, Gesellschaftsstruktur, Wirtschaft, subjektive Lebensform und politische Leitideen. Die Hauptthese ist: Nach den “goldenen 30 Nachkriegsjahren”, in der die westlichen Gesellschaften durch stetiges Wachstum, Wohlstandsgewinn und der stabilen Optimierung der industriellen Massenproduktion geprägt war, folgte ein “Liberalisierungsschub”, sowohl kulturell, gesellschaftlich als auch ökonomisch. Dieser hat, multipliziert durch die Digitalisierung, als gesellschaftliches Ideal das stark individualiserte, auf Selbstentfaltung und Maximierung des Lebensglück ausgerichtete Indivduum hervorgebracht, das vor allem durch die akademische, kosmopolitische Mittelschicht verkörpert wird.

Nun sei, so Andreas Reckwitz, dieses Gesellschaftsideal, und die in diesem Sinne motivierte Politik, wieder in einer Krise. Sie übersehe nämlich, dass nicht alle in gleichem Maße teilhaben können und wollen an diesem Projekt, und vermisst einen Mechanismus ausseinanderströmende gesellschaftliche Strukturen auf einen Grundkonsens zu vereinen.

Diese These wird nun für die oben genannten Bereiche einzeln analysiert. In der Kultur steht die “Hyperkultur”, in der das moderne Individuum aus allen kulturen der Welt sich seinen individuellen Mix bastelt, gegenüber dem “Kulturessenzialismus”, der auf (z.B. nationalistisch oder religiös) begründete Verhaltensregeln pocht und darüber einer Gruppe von Menschen eine gemeinsame Identität bietet. In der Gesellschaftsstruktur wird die “neue Mittelklasse” beschrieben, die vor allem durch die akademische Bildungsschicht verkörpert ist. Diese setzt sich ab von der “nivellierten Mittelklasse” der 1950er - 1970er Jahre, die einem grossen Anteil der Bevölkerung über Arbeit in der Industrie und traditionellen Lebensformen Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung versprach. Heute findet sich diese Klasse als “alte Mitellkasse” mit einem gesunkenen gesellschaftlichen Stellenwert und hauptsächlich ausserhalb der grossen Städte lebend wieder. Ausserdem gibt es, laut Andreas Reckwitz, eine neue “präkere Klasse”, die als Kombination der hohen Nachfrage nach einfachen Dienstleistungen der neuen Mittelklasse, und den Liberalisierungstendenzen am Arbeitsmarkt, entstanden ist.

Die letzten zwei Kapitel beschäftigen sich mit der geänderten Lebenswahrnehmung einzelner Menschen und mit der politischen Dimension. Hier ist die These dass die gesellschaftlichen Ideale der Selbstentfaltung und Glückmaximierung auch viel Enttäuschung und negative Emotionen generieren, auf die wiederum wenig Antworten oder Bewältigungsstrategien angeboten werden. Auf der politischen Ebene führt Andreas Reckwitz die Idee eines “politischen Paradigmas” ein. Nach dem “Regulierungsparadigma” der 50-70er Jahre folgte ein “Dynamisierungsparadigma”, das seinerseits seit etwa 2010 in der Krise ist. Beide Paradigmen hatten jeweils Ausprägungen sowohl auf linker als auch auf rechter Seite des klassischen politischen Spektrums. Er spricht sich in folge für ein neues Regulierungsparadigma aus, den “einbettenden Liberalismus”, der versucht die Fortschritte der letzten dreißig Jahre zu erhalten und gleichzeitig einen gesellschaftlich gesicherten Rahmen bietet über den Ausgleich und Konsens möglich sein soll.

Das Hauptziel des Buches ist eine Analyse und Strukturierung der modernen westlichen Gesellschaft anhand dieser neuen Begriffe. Was mir gefehlt hat ist eine stärkere empirische Begründung der eingeführten Thesen. Da, wo diese angedeutet wird, ist sie nicht immer überzeugend. Letztlich kann man also nur auf die persönliche Wahrnehmung zurückgreifen um einzuschätzen inwieweit sie die Realität gut beschreiben. Aber ich vermute dass das Buch einen empirischen Nachweis gar nicht wirklich bringen möchte und die Diskussion der Begriffe die Hauptsache ist. Für Nichtsoziologen wäre es sicher hilfreich klarer zu präzisieren was genau das Ziel ist, und wo die Grenzen eines solchen Ansatzes liegen.

Darüberhinaus wäre eine stärkere historische Einbettung auch interessant gewesen. Einzelne Teile der heutigen Zeit lassen sich vermutlich, wenn auch in anderer Form, in früheren Zeiten wiederfinden, und diese Erkenntniss könnte aufschlussreich sein.

Trotzdem finde ich diesen Versuch einer zusammenhängenden Erklärung vieler modernen Geschehnisse durchaus überzeugend und interessant. Sie regt dazu an Dinge neu in Zusammenhang zu setzen und anders über unsere Zeit zu denken. Darüberhinaus ist das Buch wirklich angenehm geschrieben, und verzichtet auf überkomplizierte und lange Satzkonstruktionen, was nicht selbstverständlich ist.

(SJ Oktober 2020)