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Kapitalismus

Ein Gespräch ueber kritische Theorie

suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Berlin, 2020

von Nancy Fraser und Rahel Jaeggi

Das Buch ist als Diskurs zwischen den beiden Autorinnen Nancy Fraser und Rahel Jaeggi geschrieben, was einerseits den Stil auflockert, aber andererseits dazu führt, dass ein wichtiges Konzept oder ein Kontext nicht erklärt werden, weil die Gesprächspartnerin dies eh schon weiss. Ich als Leser konnte dagegen nicht immer folgen, oft auch weil sich die Gespräche auf andere Bücher oder Quellen beziehen, deren Kenntnins vorausgesetzt wird. Leider bin ich selbst nicht so fit in der Literatur der Kapitalismuskritik. Auch habe ich nie bemerkt, dass die beiden Gesprächspartnerinnen unterschiedlicher Meinung wären.

Doch auch wenn ich nicht ellem folgen konnte, war das Buch ausgesprochen interessant, weil das Buch auch eine systematische Analyse unserer Gesellschaftsordnung der letzten 300-400 Jahren bietet. Das Buch gliedert sich in vier Kapitel:

  1. Der Begriff des Kapitalismus

  2. Die Geschichte des Kapitalismus

  3. Die Kritik des Kapitalismus

  4. Der Kampf gegen den Kapitalismus

Es git für mich viele Punkte, die interessant und neu waren. Einen will ich herausheben:

Eine Hauptkritik ist der Umstand, dass der Kapitalismus von Systemen profitiert und abhängig ist, die außerhalb des Kapitalismus angesiedelt sind, die er ausnützt aber gleichzeitig als irrelevant ignoriert. Diese Systeme sind konkret (a) die Natur außerhalb der menschlichen Gesellschaftsordnung, und (b) die privaten und sozialen Räume, die nicht kapitalistisch organisiert sind.

Was die Natur betrifft, ist es offensichtlich, dass das kapitalistische System den Rohstoffen und Naturräumen wie Wasser und Luft keinen Wert beimisst, diese aber exzessiv ausnutzt und ohne diese gar nicht funktionieren könnte. Die implizite Annahme ist, dass Naturrohstoffe in unendlicher Menge vorhanden sind und dass Abfälle, wie z.B. CO2, in unendlichen Mengen in der Natur deponiert werden kann. Dies ist natürlich eine absurde Annahme, und doch weigern sich viele Vertreter des Kapitalismus beharrlich dem Naturraum und seinen Elementen Wert und Kosten zuzuordnen.

Das zweite System, von dem der Kapitalismus existentiell abhängt, ohne ihm entsprechende Wert und Stellung zuzubilligen, ist der private Raum der Familie und der öffentliche Raum des Rechtsstaates, des Gesundheitssystems und vieler anderer sozialer und politischer Funktionen. Der Kapitalismus kann nur funktionieren, wenn alle diese Bereiche gut funktionieren. Er hängt also ganz existenziell davon ab, weigert sich aber meist, diesen Systemen den entsprechenden Wert und die gebührende Stellung zuzugestehen.

De facto kann man durchaus sagen, dass der Kapitalismus die Funktionsfähikeiten dieser anderen Systeme, und damit seine eigene, untergräbt. Historisch wurden diese anderen Bereiche immer in Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus gegen ihn geschützt.

Die Fundamentalkritik lautet also, dass der Kapitalismus sein eigenes Fortbestehen untergräbt weil es seine Grundvoraussetzungen nicht korrekt analysiert und damit gefährdet. Der Kapitalismus leidet darunter, dass er sich auf einen eng abgegrenzten Teil der Welt, dem monetarisierten Austausch von Gütern und Dienstleistungen, konzentriert und die Wichtigkeit der Welt außerhalb dramatisch unterschätzt.

Ich finde diese Kritik im Prinzip überzeugend. Eine nachhaltige, ausgewogenen Gesellschaftsordnung muss alle Teile der Welt adäquat abbildend und zueinander in Beziehung setzen. Daher fand ich das Buch und seine Analyse, die immer auf erfrischend hohem Niveau stattfindet, erleuchtend (obwohl nicht immer einfach zu folgen).

Man kann nun argumentieren, dass unsere Gesellschaften den geforderten holistischen Ansatz durchaus umsetzen, da ja ständig die Interessen zwischen Individuen, Familien, öffentlichen Institutionen, Rechtswesen, etc. und Wirtschaftsaktivitäten verhandelt und ausgeglichen werden. Das passiert sicher auch und gelingt in manchen Ländern besser als in anderen. Doch ist die Balance gefährdet und die Lage zunehmend gefährlich, da wichtige und mächtige Akteure diesen Ausgleich nicht als wichtig betrachten und aktiv und systematisch das Gleichgewicht verschieben. Vieles davon ist in den letzten Jahrzehnten unter dem Label “Neoliberalismus” passiert, und manifestiert sich in bedrohlich wachsenden Ungleichheiten, einer sich anbahnenden Klimakatastrophe, und einer wachsenden Spaltung innerhalb der Gesellschaften.

Obwohl man über viele Teilaspekte dieser Analyse trefflich diskutieren kann und dabei sicher eine Reihe von Mechanismen und Phänomenen findet, die so gar nicht in das skizzierte Schema passen, trägt diese Kritik doch maßgeblich zum Verstehen unserer Gesellschaften, ihrer historischen Entwicklungen und dem heutigen Zustand der Welt bei.

Nancy Fraser ist Professor der Politischen und Sozialwissenschaft und Professor der Philosophie an der New School in New York City.<a
    href='https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5610138'>By
    Bunnyfrosch - Own work, CC BY-SA 3.0</a>
Nancy Fraser ist Professor der Politischen und Sozialwissenschaft und Professor der Philosophie an der New School in New York City.By Bunnyfrosch - Own work, CC BY-SA 3.0
Rahel Jaeggi ist Professor der praktischen Philosophie und Sozialphilosophie an der Humboldt Universität Berlin Berlin.<a
    href='https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=60620400'> 
    By Anjadescartesfire - Own work, CC BY-SA 4.0,</a>
Rahel Jaeggi ist Professor der praktischen Philosophie und Sozialphilosophie an der Humboldt Universität Berlin Berlin. By Anjadescartesfire - Own work, CC BY-SA 4.0,

Was mir aber völlig gefehlt hat, ist eine Beschreibung und Analyse der zugrunde liegenden Mechanismen. Der “Kapitalismus” tritt eigentlich nur als anonyme, böse Macht auf, die dieses tut und jenes anstrebt. Doch in der Realität gibt es keine anonyme Macht sonder wir alle sind Kapitalisten, wir alle bilden den Kapitalismus und wir alle sind mal Profiteure und mal Leidende; manche finden sich öfter auf der leidenden Seite also andere. Was also sind die Mechanismen, denen wir alle folgen und die in Summe den Kapitalismus ausmachen? Diese Frage fehlt völlig in dem Buch, aber ich meine sie ist essentiell, da nur gute Antworten darauf uns die Werkzeuge liefern können, unsere Gesellschaften weitsichtig und nachhaltig zu verändern.

(AJ November 2020)