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Kropotkin - Memoiren eine Revolutionärs

Insel Verlag, 1973

von Petr Kropotkin

Kropotkin ist als Fürstensohn 1842 in Moskau geboren und als erklärter Anarchist 1921 in der selben Stadt verstorben. Dazwischen lebte er in Sibirien, der Schweiz, Frankreich und England und bereiste Europa mit der ständigen Absicht der revolutionären Agitation als Sozialist, Kommunist und Anarchist beseelt von dem Ziel, gerechtere Gesellschaften zu schaffen. Die vorliegewnde Autobiographie behandelt den Zeitraum von der Jugend Kropotkins bis 1886, als er sich in London niederließ.

Hineingeboren in eine Fürstenfamilie war Kropotkin von Anfang an privilegiert, doch verzichtete er auf diese Privilegien ein erstes Mal, als er eine naturwissenschaftliche Laufbahn der militärischen den Vorzug gab, wie es seinem Stand und der Erwartung seiner Familie entsprochen hätte. Er benutze seinen mehrjährigen Aufenthalt in Sibirien um die Geographie und Topographie von Zentral- und Nordasien systematisch darzulegen. Als Mitglied der russischen geographischen Gesellschaft wurde er mit dieser Arbeit als Wissenschaftler bekannt. Obwohl er auch später immer wieder wissenschaftlich tätig wurde, verzichtete er doch auf die Privilegien eines ruhigen Daseins als Wissenschaftler zugunsten dem entbehrungsreichen und gefährlichen Leben eines revolutionären Agitators. Er verbüßte auch zwei mehrjährige Gefängnisaufenthalte; zuerst, 1874-75 in der berüchtigten Peter und Pauls Festung in Petersburg, aus der er flüchtete, und später mehrere Jahre in Frankreich.

In Europa war die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine Zeit der raschen sozialen Veränderungen, der Umstürze, vieler Reformen und von repressiven Herrschern, die grausam und beharrlich an ihrer Macht festhielten. Kropotkin war über Jahrzehnte Teil der sozialistischen Bewegungen des Kontinents und agitierte vor allem in der Schweiz und in Frankreich für sozialere Gesellschaften und gerechter Machtverteilungen. Die sozialistischen Bewegungen dieser Zeit entwickelten sich laut Kropotkin in drei voneinander unabhängigen Richtungen, die durch Saint-Simon, Fourier und Robert Owen ihre besonderen Ausprägungen erhielten.

Aus dem Saint-Simonismus ging die Sozialdemokratie hervor, aus dem Fourierismus der Anarchismus, während der in England und Amerika sich zum Trade-Unionismus, zur Kooperation und dem sogenannten munizipalen Sozialismus entwickelnden Owenismus dem sozialdemokratischen Sozialismus feindlich gegenübersteht, aber viele Berührungspunkte mit dem Anarchismus aufweist. Anstatt aber anzuerkennen, daß diese drei Richtungen verschiedene Wege zu einem gemeinsamen Ziele darstellen und daß die beiden letzteren in ihrer Weise einen wertvollen Beitrag zum Fortschritt des Menschengeschlechts bieten, hat man ein Vierteljahrhundert lang die nicht zu verwirklichende Utopie einer einzigen nach sozialdemokratischem Muster zugeschnittenen Arbeiterbewegung ins Leben zu setzen gesucht. (Seite 478)

Kropotkin selbst rechnete sich den Anarchisten zu, die zwar das gleiche Ziel einer gerechteren Gesellschaft verfolgten wie die Sozialdemokratie, aber jedwede Zentralisierung ablehnte. Kropotkin meinte, dass dezentrale Organisation und Regeln viel besser auf die verschiedenartigen Bedürfnisse und Verhältnisse in den verschiedenen Ländern, Städten, Industrien und Gesellschaftsgruppen Rücksicht nehmen können und damit flexibler agieren und mehr erreicht werden könnte.

Somit ist Kropotkin’s flüssig und spannend geschriebene Autobiographie auch eine interessante Sichtweise auf Europa des neunzehnten Jahrhunderts, von der Eroberung Sibiriens, über die sich entwickelnde Naturwissenschaft, über die Behandlung der Gleichberechtigung der Frauen, und vieles mehr. So werfen die Überlegungen Kropotkins zu dem Strafvollzug in Russland und Frankreich nicht nur ein interessantes Bild auf die damalige Praxis in den beiden Ländern, sondern sie muten auch überaus modern an; so modern dass auch der heutige Stand in vielen Ländern noch nicht denselben Grad der Aufklärung und Einsicht erreicht hat, den Kroptkin zum Ausdruck bringt, wenn er beschreibt, dass viele Menschen erst durch die Erfahrung in den Gefängnissen zu wirklichen Verbrechern werden.

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By Nadar - NYPL, Public Domain

Während seines dreisigjährigen Aufenthaltes in Londen 1886-1920 wendete er sich wieder vermehrt der Wissenschaft zu, doch diesmal weniger der Geographie sondern der Evolution. 1902 veröffentlichte er das Buch “Mutual Aid: A Factor of Evolution”, in dem er auf die Kooperation zwischen Individuen und Arten in der Natur hinwies, was im Gegensatz zu damals modern gewordenen Ansichten der Dominanz des primitiven Wettbewerbes und des Sozialdarwinismus stand. Kropotkin argumentierte

it was an evolutionary emphasis on cooperation instead of competition in the Darwinian sense that made for the success of species, including the human.

(Wikipedia)

Im letzten Kapitel dieses Buches schrieb er:

In the animal world we have seen that the vast majority of species live in societies, and that they find in association the best arms for the struggle for life: understood, of course, in its wide Darwinian sense – not as a struggle for the sheer means of existence, but as a struggle against all natural conditions unfavourable to the species. The animal species […] in which individual struggle has been reduced to its narrowest limits […] and the practice of mutual aid has attained the greatest development […] are invariably the most numerous, the most prosperous, and the most open to further progress. The mutual protection which is obtained in this case, the possibility of attaining old age and of accumulating experience, the higher intellectual development, and the further growth of sociable habits, secure the maintenance of the species, its extension, and its further progressive evolution. The unsociable species, on the contrary, are doomed to decay.

(Wikipedia)

Dies mutet ebenfalls modern an wenn man als Vergleich jüngste Theorien zur Evolution und Domestikation des Menschen und des Hundes etwa von Brian Hare heranzieht (“Survival of the Friendliest”, by Brian Hare and Vanessa Woods, Random Hourse, 2018).

So erweist sich Kropotkin als eine hochmoderne Inspiriation und seine Autobiographie als die spannend zu lesende Beschau des für Europa so prägenden neunzehnten Jahrhunderts eines mutigen Agitators und klugen Beobachters.

(AJ September 2020)