Der Titel ist in zweifacher Weise irreführend. Zum einen ist das Buch sehr Deutschland fokusiert, da es zu einem wichtigen Teil um Deutschland handelt und Europa meist aus deutscher Perspektive thematisiert wird. Zum anderen wird in dem Buch eine Zukunftsvision nur implizit vorgestellt; als Leser habe ich den Eindruck "Traum" wird in dem Sinne verwendet, wie man als Individuum träumt, nämlich um Vergangenes hin- und herzuwälzen und um es zu be- und verarbeiten.
Doch abgesehen vom irreführenden Titel ist das Buch erhellend, da es die Kernerrungenschaften des einzigartigen europäischen Experiments klar herausarbeitet. Es tut dies mit der Formulierung von vier Lehren aus der Geschichte:
Das Buch handelt viel um das Ziehen dieser Lehren als Prozess, der sich mit der Darstellung von Vergangenem befasst. Insofern könnte als Motto des Buches das George Orwell Zitat dienen:
Who controls the past, controls the future;Mit Ausnahme des erfrischenden Kapitels über die Erinnerung an und die immer noch stattfindende Aufarbeitung des spanischen Bürgerkrieges 1936-1939, wird das Thema Deutschland-zentriert behandelt, indem das Entstehen der recht Einzigartigen Erinnerungskultur in Deutschland herausgearbeitet wird. Doch besonders interessant ist der Text, wenn er eine europäische Perspektive einnimmt. So wird sehr schön illustriert, dass praktisch alle europäischen Länder ihre eigenen historischen Narrative haben, an denen sie hartnäckig festhalten, und die immer unsensibel gegenüber den Narrativen der Nachbarn sind und oft mit diesen auch inkompatibel. Dies wird mit monologischem Erinnern von Schwerhörigen verglichen, die einander kaum zuhören und nicht verstehen. Was es mehr braucht ist dialogisches Erinnern und tatsächlich gibt es wichtige Beispiele und auch Fortschritte in diese Richtung.
who controls the present, controls the past.
Insgesamt hat A. Assmann ein lesenswertes und gut lesbares Buch geschrieben, das viele interessante Einsichten und Beispiele sammelt und wesentliche Elemente eines schon bestehenden europäischen Narratives beschreibt aber auch darlegt, wo es große Mängel und viel Nachholbedarf gibt. Zu Recht versteht sich das Buch auch als eigenen Beitrag zu einem europäischen Narrativ.
(AJ April 2020)