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Der europäische Traum - Vier Lehren aus der Gechichte,

by Aleida Assmann

C.H. Beck, 2018

Der Titel ist in zweifacher Weise irreführend. Zum einen ist das Buch sehr Deutschland fokusiert, da es zu einem wichtigen Teil um Deutschland handelt und Europa meist aus deutscher Perspektive thematisiert wird. Zum anderen wird in dem Buch eine Zukunftsvision nur implizit vorgestellt; als Leser habe ich den Eindruck "Traum" wird in dem Sinne verwendet, wie man als Individuum träumt, nämlich um Vergangenes hin- und herzuwälzen und um es zu be- und verarbeiten.

Doch abgesehen vom irreführenden Titel ist das Buch erhellend, da es die Kernerrungenschaften des einzigartigen europäischen Experiments klar herausarbeitet. Es tut dies mit der Formulierung von vier Lehren aus der Geschichte:

Diese vier Errungenschaften sind, so Assmann, direkte Lehren aus den beiden Weltkriegen und dem kalten Krieg 1945-1989, und sie sind zu einem wichtigen Teil in die Verfassungen der meisten europäischen Länder und in die EU Verträge von Portugal hineingeschrieben. Damit sind sie tief in der Institutions-DNA Europas verankert. Das Buch zeigt an Beispielen, dass diese Verankerung nicht in einem Big-Bang 1945 entstand, sondern einen Prozess darstellt, der mittlerweile 70 Jahre andauert, unvollständig ist und sich auch als umkehrbar erweist.

Das Buch handelt viel um das Ziehen dieser Lehren als Prozess, der sich mit der Darstellung von Vergangenem befasst. Insofern könnte als Motto des Buches das George Orwell Zitat dienen:

Who controls the past, controls the future;
who controls the present, controls the past.
Mit Ausnahme des erfrischenden Kapitels über die Erinnerung an und die immer noch stattfindende Aufarbeitung des spanischen Bürgerkrieges 1936-1939, wird das Thema Deutschland-zentriert behandelt, indem das Entstehen der recht Einzigartigen Erinnerungskultur in Deutschland herausgearbeitet wird. Doch besonders interessant ist der Text, wenn er eine europäische Perspektive einnimmt. So wird sehr schön illustriert, dass praktisch alle europäischen Länder ihre eigenen historischen Narrative haben, an denen sie hartnäckig festhalten, und die immer unsensibel gegenüber den Narrativen der Nachbarn sind und oft mit diesen auch inkompatibel. Dies wird mit monologischem Erinnern von Schwerhörigen verglichen, die einander kaum zuhören und nicht verstehen. Was es mehr braucht ist dialogisches Erinnern und tatsächlich gibt es wichtige Beispiele und auch Fortschritte in diese Richtung.

Ein schönes Beispiel ist das Weltkriegsdenkmal in Arras, Frankreich, das Präsident Holland 2014 einweihte. Es enthält die Namen von 580 000 getöteten Soldaten in alphabetischer Reihenfolge, also ohne sie nach Regimentern, Armeen oder Nationen zu ordnen, ohne sie in Angreifer und Verteidiger, Täter und Opfer einzuteilen. Bei diesem transnationalen Monument sollte die gemeinsame Trauer über die Verluste des Krieges im Zentrum stehen, und nicht ein patriotisches Narrative über Sieg oder Opfer, wie sonst sehr oft.
Trotzdem muss man konstatieren, dass monologisches Erinnern der bei weitem vorherrschende Modus ist.

Insgesamt hat A. Assmann ein lesenswertes und gut lesbares Buch geschrieben, das viele interessante Einsichten und Beispiele sammelt und wesentliche Elemente eines schon bestehenden europäischen Narratives beschreibt aber auch darlegt, wo es große Mängel und viel Nachholbedarf gibt. Zu Recht versteht sich das Buch auch als eigenen Beitrag zu einem europäischen Narrativ.

(AJ April 2020)